3. März 2018
Luzerner Zeitung «ZUG: Sie war das ungewollte Kind»

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03.03.2018, 14.00 Uhr

ZUG: Sie war das ungewollte Kind

Eva-Maria Janutin wäre nie zur Welt gekommen, wenn es nach ihrer Mutter gegangen wäre. Was sie ihre ganze Kindheit über gespürt hat, wurde im Erwachsenenalter zur Gewissheit. In einem Buch erzählt die Therapeutin, wie sie gelernt hat, damit umzugehen.

Eva-Maria Janutin ist eine herzliche Frau. Eine, die offen auf andere zugeht. Eine, die sich über kleine Dinge im Leben freuen kann. Wer ihre Geschichte kennt, kann darüber nur staunen.
Die Zuger Hypnosetherapeutin war eines von zwei Zwillingskindern. Ihre Mutter wusste nicht, dass sie Zwillinge bekommen würde – und versuchte auf Eigeninitiative hin abzutreiben. Dabei starb die Zwillingsschwester von Eva-Maria Janutin. Sie aber überlebte. Versehentlich. Und darüber hat sie nun ein Buch geschrieben.

Dass sie für die Mutter ein Fehler war, hat Eva-Maria Janutin immer zu spüren bekommen – obwohl sie erst als Erwachsene von der misslungenen Abtreibung erfuhr. Die Buchpassagen, in der Janutin die seelischen und körperlichen Misshandlungen beschreibt, sind nur schwer zu ertragen. «Ein Teil in mir wusste, dass es nicht richtig ist. Und gleichzeitig spürte ich, dass die Schläge ein Ventil für sie waren. Das gab mir Kraft, die Demütigungen weiterzuertragen und es niemandem zu sagen, auch meinem Vater nicht», schreibt sie.

Ein ermutigendes Buch mit einer tragischen Geschichte

Als Mädchen zog sie sich in eine Fantasiewelt zurück, stellte sich vor, die Nachbarin oder die Kindergartenlehrerin wären ihre Mutter – und sie würden ihr hin und wieder über den Kopf streicheln. Ihre eigene Mutter tat das nie. Wenn diese wegen ihrer psychischen Erkrankung einmal mehr in die Klinik musste, sagte sie Sätze wie: «Jetzt bin ich doch froh, dass ich dich habe. Wer würde sonst all die Arbeit machen?» Nie hätte sie den Satz ohne das «Jetzt» und das «Doch» gemacht. «Ich bin froh, dass ich dich habe» – einen solchen Satz hat das Mädchen nie gehört. «Ich habe es mir so sehr gewünscht, dass sie das nur ein einziges Mal sagen würde! Sie hätte auch gerne einmal sagen dürfen, dass sie stolz sei auf mich oder, das wäre natürlich das Grösste gewesen, wenn sie mich einmal in die Arme genommen hätte», so Janutin.

Das Geschichte hätte eine deprimierende Lektüre werden können. Doch Eva-Maria Janutin hat es nicht nur geschafft, ihr Leben selber in die Hand zu nehmen und sich von der Mutter zu emanzipieren – es ist ihr auch gelungen, aus ihrer tragischen Geschichte ein ermutigendes Buch zu schreiben. Janutin hat sich nicht brechen lassen. Es gibt etwas Rebellisches in ihrem Wesen, was dies nicht zuliess. «Rotzfrech» wurde sie von ihrer Mutter genannt – wahrscheinlich war es genau diese Eigenschaft, die es ihr letztlich ermöglichte, ihren eigenen Weg zu gehen.

Unterstützung erhielt sie dabei von ihrem Vater, ihrem älteren Bruder und ihrer Grossmutter. Aber auch von Menschen, die ihr begegneten. Das ist eine der Erkenntnisse, die man aus der Geschichte von Eva-Maria Janutin ziehen kann: Wie wichtig ein unbeteiligter Mensch für ein Kind werden kann. In Janutins Fall war die Kindergartenlehrerin eine starke positive Frauenfigur. Sie sagte ihr, dass sie kein dummes, sondern ein fantasievolles Kind sei – es war das erste Mal, dass das Mädchen von einer Mutterfigur etwas Gutes über sich zu hören bekam. «Sie hat mich nicht nur geprägt, sondern mich auch darin gestärkt, an mich zu glauben», sagt Janutin.

Und so entwickelte sich Janutin trotz allem zu einer jungen, erfolgreichen Frau. Nach einer Lehre widmete sie sich ihrem Beruf, machte Karriere, lernte einen Mann kennen und heiratete ihn. Dann wurde sie schwanger mit Zwillingen. Eines der Kinder starb während der Schwangerschaft, ihr Sohn kam alleine zur Welt. Das war ein Moment, der das Leben von Janutin veränderte. «Ich habe meinen Sohn so sehr geliebt. Aber manchmal, wenn ich ihn anschaute, wurde ich regelrecht von Weinkrämpfen geschüttelt. Ich wusste nicht, was mit mir los war», erzählt sie. Sie suchte einen Arzt auf – und dieser gab ihr die Karte eines Psychiaters. «Das war ein Schock für mich. Meine grösste Angst war immer, dass ich vielleicht auch an Schizophrenie erkranken könnte, wie meine Mutter.» In ihrer Verzweiflung nahm Janutin ihren Mut zusammen und suchte das Gespräch mit ihrem Vater. Dieser glaubte zu wissen, woher die seltsamen Anfälle kommen könnten. «Er sagte zu mir, dass ich durch meinen Sohn jetzt erleben würde, was Mutterliebe sei. Und dass mir dadurch wohl bewusst würde, dass ich das nie bekommen hätte.»

Diese Überlegung veranlasste Janutin, in der Familiengeschichte nachzuforschen. Dabei erfuhr sie, was sie unbewusst schon lange ahnte; dass ihre Mutter sie hatte abtreiben wollen. Sie erfuhr auch, warum. Die Mutter hatte vor der Heirat mit dem Vater bereits einen unehelichen Sohn und befürchtete, ihr Mann würde diesen nicht mehr lieben, wenn er ein eigenes Kind bekäme. «Als ich erfahren habe, dass ich ein ungewolltes Kind bin, hat das ganz viel mit mir gemacht. Es ist nicht so, dass ich nicht damit gerechnet hätte, aber es hat mich verletzt.»

Erstaunlich an Eva-Maria Janutin ist ihre Fähigkeit, negativen Erlebnissen etwas Positives abgewinnen zu können. Dass sie als Kind den Haushalt schmeissen musste, wenn die Mutter mal wieder eingeliefert worden war – das habe sie früh zu einer selbstständigen Frau werden lassen. Dass ihre Mutter so kalt war – das habe dazu geführt, dass sie andere starke Frauen gefunden habe, die sie geprägt hätten. «Es gibt in den meisten Wohnungen zwei Fenster – eines Richtung Sonne und eines, das im Schatten liegt. Jeder entscheidet selbst, durch welches er die Welt sieht», fasst sie zusammen. Ihre Botschaft an die Leser: «Du kannst es aus eigener Kraft aus jedem noch so tiefen Loch schaffen. Dazu musst du aber deine Denkweise ändern.»

Als Leser kann man Janutins Buch als episodenhaft aufgebaute Biografie lesen. Oder auch als Lebensratgeber mit einem Hang ins Spirituelle. So oder so: Es ist eine Geschichte, die berührt. Und das vor allem, weil es Janutin gelungen ist, ihrer Mutter zu verzeihen. «Ich habe das geschafft, in dem ich mir all die kleinen Dinge vor Augen geführt habe, die sie trotz allem für mich getan hat.» Die Mutter ist heute an Alzheimer erkrankt. «Sie war immer kontrolliert und kalt, diese Fassade kann sie heute nicht mehr aufrechterhalten. Heute wirkt sie manchmal ganz unbeschwert und lächelt. Sie ist keine Gefangene ihrer selbst mehr», hofft Janutin.

Lena Berger

Hinweis

Die Buchvernissage von «Ungewollt und doch da» (Cameo-Verlag, 28.90 Franken) findet Dienstag, 6. März, um 19 Uhr im Buchhaus Stocker in Luzern statt. Der Eintritt kostet 15 Franken. Anmeldung unter stocker@buchhaus.ch